Freitag, 13. August 2021

furchtlose Wesen

Wildblumen sind furchtlose Wesen. Es reicht ihnen nicht, liebliche Ebenen zu besiedeln, sanfte Hügel oder hübsche Wiesen und Felder. Sie trotzen Höhe, Kälte, Schnee und Wind. Sie sind zart, anmutig, zerbrechlich: kaum zu glauben, dass sie unseren Planeten bis hoch hinauf auf seine höchsten Gipfeln erobert haben. In so unwirtlicher Umgebung, in der nicht einmal der Mensch leben kann, hat die Pflanzenwelt unbeirrt eine Ebene nach der anderen eingenommen, angespornt von einem unbändigen Lebenstrieb. Bergblumen geben uns eine Vorstellung davon, wie unerschrocken Pflanzenwesen sind, denn Pflanzen fürchten keinerlei Herausforderung, schrecken vor keinem Berg zurück, vor keinem Unterfangen, das manch einer verrückt nennen würde.




einem damals als verrückt geltenden Unterfangen verdanken wir diese
Luftaufnahme der Diablerets, der Teufelshörner. Sie entstand aus Eduard Spelterinis
Ballon "Wega" am 3. Oktober 1898. Genau in der Bildmitte ist das Nest
Taveyanne zu erkennen. Der auf 4100 Metern schwebende, furchtlose
Spelterini fotografierte gegen Westen in Richtung Gryon
anlässlich seines berühmten Alpenfluges.


nicht ganz so hoch hinaus wollte der Blumenwanderer bei seinem Ausflug
ins Diablerets-Gebiet: schon in der Zwischenstation auf zweieinhalb Tausend Meter
bei Tête aux Chamois verliess der Furchtsame die Gondel.


aber kann das sein, dass der Arme noch etwas Blühendes findet
in dieser Steinwüste und so vorgerückt im Jahr?
Im Hintergrund die Cabane des Diablerets.



was duckt sich denn da gut getarnt an den Boden
und treibt sogar Knospen?







es ist die selten anzutreffende
Niedrige Alpenscharte (Saussurea alpina ssp. depressa)



sie ist die kleine Schwester der verbreiteten
Gewöhnlichen Alpenscharte und eine der Spezialitäten hier oben


der kleine, hübsche Korbblütler 
öffnet bei meinem Besuch gerade...
die ersten Blüten. Die Vollblüte findet
dann erst Ende August statt.


was gibt es zum Empfang Schöneres als ein voll
aufgeblühtes Polster des Breitblättrigen
Hornkrautes (Cerastium latifolium) oder...
eine solche Gruppe von Grossköpfigen Gämswurzen
(Doronicum grandiflorum)?



die Gämswurzen gehören unbestritten
zu meinen Favoriten unter den Alpenblumen!


ein Duckmäuser ist hingegen das Rundblättrige
Täschelkraut (Thlaspi rotundifolium), doch die Kleine
weiss schon, warum sie den Kopf nicht zu hoch trägt
und sich umso mehr in die Tiefe ausbreitet!
Wurzelsystem des Rundblättrigen
Täschelkrautes (Quelle: Wurzelatlas
mitteleuropäischer Grünlandpflanzen 2/1)



Nanu, Himmelsherold? Nicht ganz, aber das nicht minder schöne
Alpen-Vergissmeinnicht (Myosotis alpestris)


der Berg-Löwenzahn (Leontodon montanus)
ist ein weiter Bergler, der hart im Nehmen ist.



sein kräftiger, schief im Hangschutt liegender „Wurzelstock“
bildet kräftige Faserwurzeln, die eine Verankerung in tieferen,
 stabileren Bodenschichten ermöglichen


man staunt immer wieder, welch kräftige
Farben die Alpenblumen entwickeln:
Alpen-Leinkraut (Linaria alpina) et alia



Kalk-Polsternelke (Silene acaulis)





das verborgene Wurzelsystem der Kalk-Polsternelke dringt tief in das Gestein ein.
Durch den gedrungenen Wuchs erzeugt sie im Polster
ein eigenes Mikroklima und ist somit gut an extreme Verhältnisse angepasst.
Das Polster kann bis zu 2 Meter breit und 100 Jahre alt werden
(Quelle: Wurzelatlas mitteleuropäischer Grünlandpflanzen 2/1).



Alpen-Berufkraut (Erigeron alpinus aggr.)

Schweizer Labkraut (Galium megalospermum)





der Zwerg-Liebstock (Ligusticum mutellinoides)
hat fiederschnittige Hüllblätter



Berg-Spitzkiel (Oxytropis jacquinii)
auch die Schwarze Schafgarbe (Achillea atrata)
ist ein Spezialist der Kalkschutthalden

Zweizeiliger Goldhafer 
(Trisetum distichophyllum)


Kleine Trauer-Segge (Carex parviflora)






hinter der zarten Erscheinung verbirgt sich eine enorme Resilienz:
Gletscher-Hahnenfuss (Ranunculus glacialis)


Triglav-Pippau (Crepis terglouensis cf.)



nicht zuletzt geniesse ich auch die Aussicht und
die Berglandschaft mit ihren uralten Erosionshalden






um mich anschliessend wieder aufs Kleine zu fokussieren:
Zwergorchis (Chamorchis alpina)



zuweilen kommt man sich wie auf dem Mond vor....

um gleich nebenan zu staunen über ein Blütenmeer!


das Edelweiss (Leontopodium alpinum)
darf nicht fehlen; im Hintergrund das Oldenhorn
daneben schon wieder 
die Zwergorchis!



der Star des Tages war sicher diese an 
geschützter Lage wachsende Pflanze:
Nickender Steinbrech (Saxifraga cernua)
diese in den Alpen als Glazialrelikt bezeichnete
Pflanze ist an sich häufig - im arktischen Bereich -
jedoch in den Alpen sehr selten anzutreffen

sie bildet in den Blattachseln rötliche Bulbillen
zur vegetativen Vermehrung und
oben eine einzelne Blüte


Zwerg-Gänsekresse (Arabis bellidifolia)


Sternblütiger Steinbrech (Saxifraga stellaris)




da musste ich eine Weile überlegen,
was das eigentlich ist. Ob man's glaubt
oder nicht: auch ein Steinbrech!
Mannsschild-Steinbrech (Saxifraga androsacea)
immer eindrücklich zu sehen, wie diese Art
mit den Felsen quasi verschmilzt:
Schweizer Mannsschild (Androsace helvetica)




Veilchen im Geröll? Tatsächlich ist das Mont-Cenis-Stiefmütterchen
(Viola cenisia) ein Spezialist der Kalkgeröll-Halden!

Alpen-Spitzkiel (Oxytropis campestris)


Wurzelsystem des Alpen-Spitzkiels 
(Quelle: Wurzelatlas mitteleuropäischer Grünlandpflanzen 2/1)


Bewimperter Mannsschild (Androsace chamaejasme)
glücklich fahre ich wieder hinab zum Col du Pillon.
Im Hintergrund das Schluchhore.


Fazit: die Steinwüste hat sich als unerwartet bunt erwiesen, etwas,
das Spelterini entgangen sein dürfte, der dafür ganz anderes sah!







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