Samstag, 21. September 2019

der Niesen im Berner Oberlande

"Mancher Leser dieser Blätter hört hier wohl zum ersten Male den Namen eines Berges, der doch mehr als mancher andere, jetzt viel besuchte und gerühmte Punkt der an Naturschönheiten so reichen Schweiz die Aufmerksamkeit des flüchtigen Reisenden nicht allein, sondern auch des wissenschaftlichen Forschers verdient. Gleich merkwürdig durch seine Gestalt und prachtvolle Fernsicht, wie durch seine üppige Flora und seine interessanten geognostischen Verhältnisse und bereits im Jahre 1561 von Benedikt Aretius..... beschrieben, diente er doch bis jetzt beinahe nur der näheren und ferneren Umgegend zum Zielpunkt von Excursionen , während der grosse Touristenschwarm, der alljährlich die Schweiz durchflutet, und zum grossen Teile an seinem Fusse vorüber durchs Kandertal und über den Gemmipass dem Wallis zueilt, durch seine schwere Zugänglichkeit und den Mangel eines sicheren Obdachs auf der Spitze von der Besteigung abgeschreckt wurde. In den letzten Jahren ist das anders geworden. Seitdem ein mit grosser Mühe und bedeutenden Kosten angelegter, ganz gefahrloser Weg zum Gipfel des Niesen führt, und ein treffliches Gasthaus dem Wanderer erwünschte Labung und Schutz gegen einbrechendes Unwetter verspricht, hat sich ihre Zahl auch der ausländischen Besucher ungemein vermehrt und die Zeit dürfte nicht mehr fern sein, wo sein Name dem des Rigi und anderer berühmter Aussichtspunkte ebenbürtig genannt wird. Leider wird aber auch mit dem Eintreffen des unvermeidlichen Engländers und des lärmenden Franzosen der Berg viel von dem poetischen Reize verlieren, der sein einsames Haupt bisher schmückte."

(aus: Der Niesen im Berner Oberlande, Eine Reiseskizze von Dr. Hess, 
erschienen in der Oesterreichischen botanischen Zeitschrift, X. Jahrgang, Nr. 3, März 1860)


Dem wissenschaftlichen Forscher etwas näher stehend als dem flüchtigen Reisenden und sowohl dem lärmenden Franzosen abhold wie auch dem unvermeidlichen Engländer, erkundete der Blumenwanderer am 28. Juno A.D. 2019 die Gipfelregion des Niesens. Die nachfolgenden Aufnahmen zeigen, dass auch nach über 150 Jahren die Flora dieses Aussichtsberges sehenswert ist und üppig. Im Hinblick darauf ist auch eine Spur seines poetischen Reizes durchaus noch vorhanden.



anstatt ein tausendmal abfotografiertes Sujet nochmals zu zeigen
hier dreimal die Pyramide, wie ein Künstler sie sah:
Ferdinand Hodler: der Niesen, 1910
der Niesen in der Kunst ist ein Kapitel für sich,
denn nicht nur lokale, sondern auch international bedeutende Künstler
 haben diesen Berg in ihr Werk aufgenommen.
Ferdinand Hodler: Thunersee und Niesen, 1913

ganz prosaisch lässt sich sagen, dass die Geschichte dieses Schieferberges vor ca. 70 Mio. Jahren begann,
als sich am Grund des Ur-Mittelmeeres schiefrige Schichten ablagerten.
Durch die Alpenfaltung verfrachtete sich der Niesen von Süden her an die jetzige Stelle:
Ferdinand Hodler: Thunersee mit Niesen, 1910


Ursprünglich hiess der Thuner Hausberg Yesen. «An Yesen» verschmolz schliesslich zu Niesen.
"Yesen" meint nichts anderes als der Gelbe Enzian (Gentiana lutea), der auch heute noch am Niesen blüht
(vgl. Jänzene: berndeutsch für Enzianschnaps).
Damit ist die ikonische Pyramide also tatsächlich nach einer Pflanze benannt!

Berge zum reinen Vergnügen zu besteigen wurde erst im 19. Jahrhundert entdeckt.
Vorher ging man davon aus, dass sie Wohnorte von bösen Geistern und Drachen seien.
(Drunengalm ist ein weiterer Berg in der Niesenkette: «Drunen» bedeutet Drachen).
An so etwas mag man beim Betrachten solcher Blumenmatten nicht denken.


auch sie hier ist sicher Bestandteil des im 19. Jahrhunderts
entdeckten poetischen Reizes der Gebirgsregion:
Weisse Trichterlilie (Paradisea liliastrum)








bei näherem Hinsehen sind aber auch ganz gewöhnliche Wegeriche
nicht ohne Reiz: Mittlerer Wegerich (Plantago media)

Mehl-Primel (Primula farinosa)






auch ganze paradiesischen Lilienmatten
gibt es am Niesen!




hier vermählt mit einer Orchidee:
Kugelorchis (Traunsteinera globosa)


spätestens hier beginnt auch für den Blumenwanderer
der poetische Reiz

das Berghähnlein (Anemone narcissiflora),
auch Narzissen-Windröschen genannt





Manns-Knabenkraut (Orchis mascula)
im Hufeisenklee
Fuchs' Fingerkraut
(Dactylorhiza maculata subsp. fuchsii)





der emblematische Kalk-Glocken-Enzian (Gentiana clusii).
Das Art-Epitheton ehrt den Arzt und Naturforscher
Charles de l’Écluse (latinisiert Clusius, 1526–1609)

die Hohlzunge (Coeloglossum viride).
Die dicke, rostbraune Lippe hängt zungenförmig herab 
und gibt dieser häufigen Bergorchidee den Namen

kein Löwenzahn, sondern der Hainlattich (Aposeris foetida).
Er sollte gemäss seinem wissenschaftlichen Artnamen eigentlich Stink-Lattich heissen,
denn der Geruch der zerriebenen Blätter erinnert ganz unpoetisch an altes Frittieröl!

ein Blick hinüber ins Simmental mit dem Stockhorn rechts

die Silberwurz (Dryas octopetala).
Ihre grossen Blüten richten sich nach der Sonne und bündeln das Licht,
wodurch sich die Temperatur im Zentrum der Blüten im Vergleich zur Umgebung erhöht.
längst Geschichte sind die zahlreichen 
Pelzanemonen (Pulsatilla vernalis) am Blumengrat.
Nach der Blüte bildet sich wie bei allen Pulsatillen
ein Fruchtstand in Form einer kugel­igen Perücke

der mittelländischen Dunstglocke enthoben, geniesst der Blumenwanderer den Blick auf Thun und seinen See...

und auf die zahlreichen Berghähnlein im Vordergrund.
Im Hintergrund das Kanderdelta.


der geneigte Wanderer erspäht im Grase auch die diskreten
Faltenlilien (Lloydia serotina), welche eleganten Tülpchen ähneln 


historische Photographie des "trefflichen Gasthauses" auf dem Niesen,
umkränzt von flatternder Wäsche und mit den Kissen der Alpinisten in den Fenstern.
Das erste Gasthaus wurde 1856 erbaut, also 50 Jahre vor der Bahn. Sämtliche Nahrungsmittel mussten
hinaufgetragen werden. Die Gäste bestiegen den Niesen zu Fuss. Wohlhabende liessen sich jedoch von Pferden
und Maultieren oder sogar auf Sesseln, die von vier Männern getragen wurden, auf den Niesen befördern.

Foto des Berghauses Niesen Kulm aus späteren Tagen,
als die Bahn schon gebaut  war: die Bettwäsche ist verschwunden.



 Musenberg, Parnass, Pharaonengrab oder doch NiesenPaul Klees Ikone bildet den Abschluss dieses Berichts:
der Niesen - Aegyptische Nacht, 1915








Dienstag, 10. September 2019

Dracos und Aquilas

nicht um Fantasy-Tiere, sondern um zwei botanische Highlights der Berner Flora geht es:
mit Dracos und Aquilas verballhornte der Blumenwanderer Dracocephalum ruyschiana und Aquilegia alpina, den Berg-Drachenkopf und die Alpen-Akelei! Um die beiden Blaublüter war ihm auch zu tun, als er im Sommer einen weglosen Gipfel oberhalb des Lauenensees bestieg.

Dass es sozusagen als Supplement fast die ganze Kalkflora in schöner Ausprägung dazugab, nahm er gerne hin.




bei herrlichem Sommerwetter und klarer Sicht beginnt der Aufstieg

schon an dessen Fuss gefunden:
Arktische Binse (Juncus arcticus)


Gletscherlinse (Astragalus frigidus) u.v.a.m.







Silberwurz (Dryas octopetala)

Berg-Pippau (Crepis bocconei)

schon kommen die ersten Aquilas in Sicht:
Alpen-Akelei (Aquilegia alpina)

nach dem anstrengenden Aufstieg gelangt man zum einsamen Blumengrat










erstaunlich rasch finde ich die gesuchten Dracos:
Berg-Drachenkopf (Dracocephalum ruyschiana),
hier noch mehrheitlich in den Knospen







auch ein schöner Fund sind diese Edelweisse
(Leontopodium alpinum)







Bränderli (Nigritella rhellicani)
einmal dunkel, einmal hell
in Wirklichkeit handelt es sich bei dem Hellen
um einen Hybrid zwischen dem Bränderli und
der ebenfalls vorhandenen Handwurz (Gymnadenia)





auch hier heisst die Devise einmal dunkel, einmal hell:
Quirl-Läusekraut (Pedicularis verticillata)

Strauss-Glockenblume (Campanula thyrsoides)





eine wahrhaft paradiesische Erscheinung sind
diese Paradieslilien (Paradisea liliastrum).
Der Gattungsname nimmt nicht direkt Bezug auf das Paradies,
sondern auf den italienischen adligen Gartenfreund
Giovanni Paradisi, der von 1760-1826 lebte.



beim Anblick solcher Wiesen kriegt man den Eindruck, dass die Welt noch in Ordnung sei

Langspornige Handwurz (Gymnadenia conopsea) u.v.a.m.

hier sind die Drachenköpfe (Dracocephalum ruyschiana) aufgeblüht.
Der wissenschaftliche Artname geht auf den Niederländer Frederik Ruysch (1638-1731) zurück.
Damals konnte ein Botaniker auch noch Geburtshelfer und Gerichtsmediziner sein!


Was für ein Name für diese kleinwüchsige Art!
Den Gattungsnamen verdankt der Lippenblütler ...

der Form seiner blauen Krone, die mit viel Phantasie
als Drachenkopf angesehen werden kann.

der Allermannsharnisch (Allium victorialis).
Das Art-Epitheton "victorialis" sowie die ehemalige Bezeichnung Siegwurz
verweisen darauf, dass er eine alte Zauberpflanze ist, die nach dem
Volksglauben den Menschen, insbesondere den Krieger
unverwundbar im Kampf machen sollte.

die Dracos waren hier etwa 15 cm hoch


auch im Gipfelbereich blüht unübersehbar
die Alpen-Akelei (Aquilegia alpina)

ihre grossen, tiefblauen Blüten
machen die Art unverwechselbar




welch ein Zauber geht von dieser Lilienwiese aus (Paradisea liliastrum)!
Hier fühlt man sich dem Himmel näher als der Erde.

gleich daneben blüht wieder dieser gelbe Berglauch
namens Allermannsharnisch

das wilde Nägeli wächst gerne an sonnigen Hängen und auf Felsmatten,
weshalb es auch Stein-Nelke (Dianthus sylvestris) genannt wird


unauffälliger geht's fast nicht für eine Orchidee:
Zwergorchis (Chamorchis alpina)
mit grasartigen Blättern und grünen Knospen


der Schnee-Enzian (Gentiana nivalis)
liebt magere Rasen ....

der wilde Schnittlauch (Allium schoenoprasum)
jedoch wie hier feuchte Wiesen.






ein letzter Blick zurück auf den stotzigen Hoger vom Chüetungel aus