Sonntag, 19. September 2021

der Widerbart

Die Scientia amabilis, wie Goethe sie nannte, befaßt sich nicht nur mit den farbenreichen Sonnenkindern unserer Flora, sondern interessiert sich auch für jene Geschöpfe, die sich dank einer besonderen Organisation in das Dunkel der Wälder zurückgezogen haben. Sie prangen nicht durch Farben, sind aber umso interessanter in ihrem unterirdischen Leben. Die Blätter, die bei den übrigen Pflanzen die Sonnenstrahlen einfangen und Bau- und Bildungsstoffe des Lebens bereiten, sind bei ihnen zu unscheinbaren Schuppen verkümmert. Diese Orchideen sind stets auf das Zusammenleben mit Pilzen angewiesen, die ihnen die Nähr- und Baustoffe vermitteln.

Eine erste ausführliche Abhandlung über den Widerbart lieferte erst Thilo Irmisch, Gymnasiallehrer zu Sondershausen. Er fand ihn 1853 in «großer Üppigkeit und Fülle» im Buchenwald, meist in größeren und kleineren Gruppen beisammen. Überraschend ist schon seine Vermutung: «Wahrscheinlich hatten die von ungemein starken Regengüssen begleiteten Gewitter, welche dieses Jahr in einer für unsere Gegend seltenen Häufigkeit und mit einer furchtbaren Gewalt auftraten, das Gedeihen der Pflanze befördert.»

Das Auffinden dieser Pflanze bleibt stets ein glücklicher Zufall, sagt doch schon H. G. Reichenbach (1824—1889): «Difficillime reperitur; saepius inexspectatum, quam quaesitum legitur» (sie ist sehr schwer zu finden; öfters wird sie gesammelt, wenn man sie nicht erwartet, als wenn man sie sucht). Wer nach nassen Frühlingstagen und gewitterreichen Sommern vom 15. Juli - 15. August geeignete Wälder aufsucht, dem kann am ehesten die Freude zuteil werden, diese aus dem Moospolster hervorgeschossenen bleichen Waldgespenster mit ihren lebhaft gezeichneten Blüten zu entdecken. 

aus: Dr. S. Schwere: der Widerbart, eine geheimnisvolle Orchidee, 1937


nach einem aussergewöhnlich regen- und gewitterreichen Sommer 
findet der Blumenwanderer an einem Sonntagnachmittag im Juli,
es wäre an der Zeit, sich wieder mal auf die Suche nach dem Widerbart machen


und auf einmal leuchtet dem Träumer in einem 
Buchenwald des Solothurner Juras etwas entgegen,
worauf gerade ein Sonnenstrahl fällt

das gibt's doch nicht, denkt der Verblüffte:
Glück muss der Mensch haben!


treffend schreibt Carl Schröter: «Die Pflanze macht einen ganz überraschenden Eindruck,
wenn sie bleich und gespensterhaft plötzlich aus dem geheimnisvollen Waldesdunkel auftaucht.»


auch an anderen Stellen leuchtet
es immer etwas geisterhaft auf,
wenn die Sonne kurz daraufscheint!
es ist eindeutig 
der Widerbart (Epipogium aphyllum),
eine Waldorchidee



die Art mit dem "habitus peregrinus" (fremdartiges Aussehen),
so Albrecht von Haller, hat eine nach oben gerichtete Lippe
und keinerlei sichtbare Laubblätter


der Widerbart ist als Urwaldrelikt zu betrachten,
der langjährig stabile und störungsfreie Habitate
benötigt. Dazu gehört auch ein ausgeglichenes 
Mikroklima und typische Strukturelemente wie
mächtige Fallaubdecken und viel Totholz
beim Betreten seines Habitats ist
deshalb höchste Vorsicht geboten.
Die vorliegenden Aufnahmen entstanden
von einem Waldweg aus. Pflanzen oder
ihre Wurzeln kamen nicht zu Schaden.


die Art wird in Schweden mit einem
mir sympathischeren Namen als ..
im Deutschen belegt:
es ist die Skogsfru: die Waldfrau


während Jahrhunderten war den Botanikern
nicht klar, worum es sich bei diesem geisterhaften,
 wachsfarbenen "Widerborst" handelt ....

der scheinbar mal da, mal dort
auftaucht, um dann jahrelang wieder
spurlos zu verschwinden.


noch tropfen die Stängel vom letzten
Regen am Vormittag
ein Wunder, dass die zerbrechlichen Blüten
bis jetzt vom Hagel verschont wurden


die fein gezeichneten Blüten:
während die Lippe nach oben zeigt, hängen die drei Sepalen
und zwei Petalen tintenfischartig nach unten


um klar zu machen, dass es dort noch andere schöne Pflanze gibt,
sei hier die Rundblättrige Glockenblume gezeigt (Campanula rotundifolia)


Stendelwurz (Epipactis spec.)


Braunrote Stendelwurz (Epipactis atrorubens)



auch der Wurzelnde Schleimtrübling
(Hymenopellis radicata)...
lebt gerne auf morschem, totem Laubholz.



der Schluss gehört aber keinem Trübling,
sondern der Waldfrau, die unglaublicherweise an einem Ort haust,
wo viele vorübereilen, ohne sie zu beachten


ein magisches Erlebnis:
nicht mehr einzelne Pflanzen, sondern vielschaftige Büschel
der Wunderblume schiessen bis zu 20 cm über die braune Laubdecke empor!






Samstag, 11. September 2021

auf dem Chasseral

Gleich zweimal war der Blumenwanderer auf dem beliebten Chasseral. Nicht jedoch die atemberaubende Fernsicht auf dem höchsten Gipfel des Berner Juras zog ihn an, auch nicht das grosse Gasthaus dort oben, sondern - wenig erstaunlich - die Flora der subalpinen bzw. pseudoalpinen Wiesen der Gipfelregion, die ein ganzes Cortège von für die jurassische Flora bemerkenswerten Pflanzen aufweisen. Oft sind sie sonst nur an wenigen Standorten im Jura vertreten.

An Spezialitäten zu nennen wären etwa das Grossblütige Sandkraut, das Langblättrige Hasenohr, das Jura-Leinkraut oder der Blassgelbe Schöterich. Aber auch sonst häufige Arten erreichen hier ihren nördlichsten Standpunkt wie die Alpen-Anemone, das Narzissen-Windröschen und die Holunder-Fingerwurz. Es ist noch nicht völlig geklärt, wie sie alle hierherkamen und ist Gegenstand der Forschung, andere wurden sicher auch vom Menschen hierher verbracht.

Der Blumenwanderer ist froh, viele von ihnen gesehen zu haben und sie in diesem Beitrag zeigen zu können. Die erste Tour fand im Rahmen der Botanischen Gesellschaft Bern statt unter der Leitung von Christoph Käsermann.

 


Tourdatum: 19. Juni


Blick gegen Norden zur Combe Grède und
der Windkraftanlage auf dem Mont Soleil

Blick gegen Süden mit dem Neuenburgersee rechts.
Nun ja, immer kann die Fernsicht nicht gut sein:
der Alpenkranz ist nur zu erahnen.


alle kennen den weithin sichtbaren
Sendeturm unweit des Gipfels
auf dem Chasseral gibt es zahlreiche
Orchideenarten: hier die unscheinbare
Hohlzunge (Coeloglossum viride)



weitere Beispiele sind
das Männliche Knabenkraut (Orchis mascula).....
und die Holunder-Fingerwurz
(Dactylorhiza sambucina).


sodann durchstreifen wir den "White Garden":
Alpen-Anemonen (Pulsatilla alpina)

die Fundstellen des Milch-Mannsschilds (Androsace lactea)
ausserhalb der Alpen sind als Reliktstandorte der Eiszeit anzusehen

was wächst hier denn aus einer Felsritze?


das Grossblütige Sandkraut (Arenaria grandiflora)
ist eine der grossen Attraktionen des Chasseral


der sonst im Bereich der Alpen weit verbreitete
Dunkle Mauerpfeffer (Sedum atratum)
ist am Chasseral schon etwas Besonderes

die Herz-Kugelblume (Globularia cordifolia) 
gehört zu den Wegerichgewächsen und bevorzugt felsige Orte



einer der beachtenswertesten botanischen Standorte
des Jura sind die am Fuss von "Les Roches"
angehäuften Schutthalden
an diesen Pionierstandorten gedeiht auch
das Jura-Leinkraut (Linaria alpina ssp. petraea) 



die schönen Büschel des Blassgelben Schöterichs (Erysimum ochroleucum)
waren schon Abraham Gagnebin aus La Ferrière und dem grossen Haller bekannt


sie strömen einen ganz eigenen Wohlgeruch aus...
und bilden einen herrlichen Blühaspekt.

wer glaubt, dass das Maiglöckchen (Convallaria majalis)
nur in Wäldern anzutreffen sei, sieht sich hier eines besseren belehrt


der Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus) ist ein Spezialist für nackten Schotter.
Er ist extrem zäh und kann bis zu 500 Jahre alt werden.



bei meinem Aufenthalt waren die Schöteriche
von zahlreichen Insekten umschwärmt,
vor allem von auffallend vielen Schmetterlingen
wie dem Kleinen Fuchs



dass es diese seltene Art hier so zahlreich gibt, ist ein Erlebnis der Extraklasse





Tourdatum: 18. Juli



einen Monat später hat sich der Aspekt geändert,
und man sieht schöne Bestände von
links Gelbem Enzian (Gentiana lutea) und oben
Knäuel-Glockenblumen (Campanula glomerata)



doch das hier sieht man nicht alle Tage




es sind die Blütenstände eines Doldenblütlers 
mit seinen breiten Hüllblättchen:
Langblättriges Hasenohr (Bupleurum longifolium)


 es wächst in der Schweiz nur
an wenigen Standorten auf steinigen
Kalkhängen und in lichten Wäldern
typisch sind die oberen Blätter,
die den Stängel praktisch umfassen


das Langblättrige Hasenohr wird mehrere Jahre alt, stirbt nach der ersten Blüte meist aber ab



die Grossblättrige Weide (Salix appendiculata)
kommt vor allem in Hochstaudenwäldern vor


der Türkenbund (Lilium martagon),
umspielt von Jura-Bärenklau
(Heracleum sphondylium ssp. alpinum)
Berg-Laserkraut
(Laserpitium siler)


der schöne Laserkraut-Würger
(Orobanche laserpitii-sileris) heisst so, ...



weil er auf Laserkraut schmarotzt.


den Abschiedsgruss entbietet ein Dukatenfalter