"Mancher Leser dieser Blätter hört hier wohl zum ersten Male den Namen eines Berges, der doch mehr als mancher andere, jetzt viel besuchte und gerühmte Punkt der an Naturschönheiten so reichen Schweiz die Aufmerksamkeit des flüchtigen Reisenden nicht allein, sondern auch des wissenschaftlichen Forschers verdient. Gleich merkwürdig durch seine Gestalt und prachtvolle Fernsicht, wie durch seine üppige Flora und seine interessanten geognostischen Verhältnisse und bereits im Jahre 1561 von Benedikt Aretius..... beschrieben, diente er doch bis jetzt beinahe nur der näheren und ferneren Umgegend zum Zielpunkt von Excursionen , während der grosse Touristenschwarm, der alljährlich die Schweiz durchflutet, und zum grossen Teile an seinem Fusse vorüber durchs Kandertal und über den Gemmipass dem Wallis zueilt, durch seine schwere Zugänglichkeit und den Mangel eines sicheren Obdachs auf der Spitze von der Besteigung abgeschreckt wurde. In den letzten Jahren ist das anders geworden. Seitdem ein mit grosser Mühe und bedeutenden Kosten angelegter, ganz gefahrloser Weg zum Gipfel des Niesen führt, und ein treffliches Gasthaus dem Wanderer erwünschte Labung und Schutz gegen einbrechendes Unwetter verspricht, hat sich ihre Zahl auch der ausländischen Besucher ungemein vermehrt und die Zeit dürfte nicht mehr fern sein, wo sein Name dem des Rigi und anderer berühmter Aussichtspunkte ebenbürtig genannt wird. Leider wird aber auch mit dem Eintreffen des unvermeidlichen Engländers und des lärmenden Franzosen der Berg viel von dem poetischen Reize verlieren, der sein einsames Haupt bisher schmückte."
(aus: Der Niesen im Berner Oberlande, Eine Reiseskizze von Dr. Hess,
erschienen in der Oesterreichischen botanischen Zeitschrift, X. Jahrgang, Nr. 3, März 1860)
erschienen in der Oesterreichischen botanischen Zeitschrift, X. Jahrgang, Nr. 3, März 1860)
Dem wissenschaftlichen Forscher etwas näher stehend als dem flüchtigen Reisenden und sowohl dem lärmenden Franzosen abhold wie auch dem unvermeidlichen Engländer, erkundete der Blumenwanderer am 28. Juno A.D. 2019 die Gipfelregion des Niesens. Die nachfolgenden Aufnahmen zeigen, dass auch nach über 150 Jahren die Flora dieses Aussichtsberges sehenswert ist und üppig. Im Hinblick darauf ist auch eine Spur seines poetischen Reizes durchaus noch vorhanden.
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anstatt ein tausendmal abfotografiertes Sujet nochmals zu zeigen hier dreimal die Pyramide, wie ein Künstler sie sah: Ferdinand Hodler: der Niesen, 1910 |
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auch sie hier ist sicher Bestandteil des im 19. Jahrhunderts entdeckten poetischen Reizes der Gebirgsregion: Weisse Trichterlilie (Paradisea liliastrum) |
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bei näherem Hinsehen sind aber auch ganz gewöhnliche Wegeriche nicht ohne Reiz: Mittlerer Wegerich (Plantago media) |
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Mehl-Primel (Primula farinosa) |
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auch ganze paradiesischen Lilienmatten gibt es am Niesen! |
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hier vermählt mit einer Orchidee: Kugelorchis (Traunsteinera globosa) |
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spätestens hier beginnt auch für den Blumenwanderer der poetische Reiz |
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das Berghähnlein (Anemone narcissiflora), auch Narzissen-Windröschen genannt |
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Manns-Knabenkraut (Orchis mascula) im Hufeisenklee |
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Fuchs' Fingerkraut (Dactylorhiza maculata subsp. fuchsii) |
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der emblematische Kalk-Glocken-Enzian (Gentiana clusii). Das Art-Epitheton ehrt den Arzt und Naturforscher Charles de l’Écluse (latinisiert Clusius, 1526–1609) |
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die Hohlzunge (Coeloglossum viride). Die dicke, rostbraune Lippe hängt zungenförmig herab und gibt dieser häufigen Bergorchidee den Namen |
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ein Blick hinüber ins Simmental mit dem Stockhorn rechts |
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die Silberwurz (Dryas octopetala). Ihre grossen Blüten richten sich nach der Sonne und bündeln das Licht, wodurch sich die Temperatur im Zentrum der Blüten im Vergleich zur Umgebung erhöht. |
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längst Geschichte sind die zahlreichen Pelzanemonen (Pulsatilla vernalis) am Blumengrat. Nach der Blüte bildet sich wie bei allen Pulsatillen ein Fruchtstand in Form einer kugeligen Perücke |
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der mittelländischen Dunstglocke enthoben, geniesst der Blumenwanderer den Blick auf Thun und seinen See... |
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und auf die zahlreichen Berghähnlein im Vordergrund. Im Hintergrund das Kanderdelta. |
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der geneigte Wanderer erspäht im Grase auch die diskreten Faltenlilien (Lloydia serotina), welche eleganten Tülpchen ähneln |
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Foto des Berghauses Niesen Kulm aus späteren Tagen, als die Bahn schon gebaut war: die Bettwäsche ist verschwunden. |
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Musenberg, Parnass, Pharaonengrab oder doch Niesen? Paul Klees Ikone bildet den Abschluss dieses Berichts: der Niesen - Aegyptische Nacht, 1915 |