Dienstag, 22. Oktober 2024

Bahnhof-Flora

Als Beginn des Eisenbahnverkehrs wird gemeinhin die Eröffnung der Strecke Liverpool-Manchester am 15.9.1830 angesehen. Die erste kontinentale Eisenbahnstrecke wurde 1835 zwischen Brüssel und Mechelen eröffnet, die erste deutsche Strecke Ende desselben Jahres von Nürnberg nach Fürth. Schon wenige Jahre später wurden die ersten Hinweise auf Funde von Pflanzenarten entlang von Eisenbahnlinien publiziert, etwa 50 Jahre später bereits eine Veröffentlichung mit einem so wegweisenden Titel wie „Die Eisenbahn als Verbreitungsmittel der Pflanzen…“ (Holler, 1883).

Bahnhöfe und andere Betriebsflächen der Bahn gehören in Mitteleuropa längst zu den artenreichsten Habitaten, die wir kennen. Allein in Deutschland wurden auf Bahnhöfen mehr als 1000 Pflanzenarten wildwachsend angetroffen (Brandes, 2005). Gerade großstädtische Bahnhofsareale haben derzeit wichtige Refugialfunktionen, die sie jedoch vermutlich bald verlieren werden. Änderungen im Transportwesen führen zum Rückgang ihrer geobotanischen Bedeutung; im Verhältnis zu den Eisenbahnanlagen übernehmen Autobahnen zunehmend Funktionen in der Ausbreitung von Pflanzenarten sowie als Wuchsort von Adventiv- und Ruderalpflanzen.

Bei einem Aufenthalt auf dem Bahnhof Brig lernte der Blumenwanderer diesen als Hotspot besonderer Arten kennen, wie die folgenden Bilder zeigen. Vorher werden aber noch einige spezielle Pflanzen-Beispiele von anderen Bahnhöfen gezeigt. Sollten sie nicht gefeiert werden für ihre unverwüstliche und resiliente Art, auch die unwirtlichsten Ort zu besiedeln und zu zieren?!


nicht schlecht staune ich, als ich
am Bahnhof von Kerzers...
vor einem grossen Bestand
des Schabenkrautes (Verbascum blattaria) stehe.

die gelegentlich auch weiss blühende Art...
wurde früher oft zum Vertreiben
der gefürchteten Schaben verwendet.

der Bahnhof von Le Lieu
überrascht ungewöhlicherweise....
mit einem grösseren Vorkommen
des Jura-Leinkrauts (Linaria alpina ssp. petraea).


darauf wird von der Bahn Rücksicht genommen.
Ich begab mich auch nur deshalb aufs Geleis,
weil dieses nicht mehr benutzt wird,
und fand so auch das Klebrige Greiskraut
(Senecio viscosus).


beim Bahnhof von Vallorbe finden sich
am Bahndamm auch Orchideen,
so das Helm-Knabenkraut (Orchis militaris)
und der Ohnsporn (Aceras anthropophorum)



die grosse Attraktion hier ist eine Population
des ansonsten westmediterran verbreiteten
Niederliegenden Leinkrauts (Linaria supina)


wer hätte es gedacht, dass auch....
das hübsche Rosmarin-Weidenröschen
(Epilobium dodonaei) Bahnhöfe liebt!


unweit voneinander wachsen hier
zwei hochwüchsige Beispiele dessen,
was man so alles an Geleisen findet
oben die Behaarte Karde (Dipsacus pilosus)
und links der Schöne Pippau (Crepis pulchra).
Warum sehe ich letzteren eigentlich nie blühend?
Gustav Hegi klärte mich auf: "Die schmalen, armblütigen
 Blütenköpfe öffnen sich......zwischen 6 und 7 Uhr morgens
 und schliessen sich 3 Stunden später" (Bd. VI, 2  p. 1179).
Frühaufsteher sollte man sein!




auf einem Bahnhof im Wallis finde ich abundant diese Art:
die Zarte Gliederschote (Chorispora tenella),
eine schöne Migrantin aus Südosteuropa...


und das Mauer-Felsenblümchen (Draba muralis).


am Bahnhof Brig angelangt, frage ich mich schliesslich,
was da für ein Aschenputtel sein Dasein fristet
unglaublicherweise ist das hier
das Grosse Knorpelkraut (Polycnemum majus)!


das stark gefährdete Fuchsschwanzgewächs wächst hier
aus kleinsten Ritzen im Asphalt

wie auch der gefährdete...


Drüsige Gänsefuss (Chenopodium botrys).
Man fragt sich schon, wie solche ansonsten sehr seltene Arten
sich an diesen unwirtlichen Orten ansiedeln konnten.

ist es die Abwesenheit von Konkurrenz, die an solch ariden Orten
die Ausbreitung von Arten begünstigt, die als Pioniere angesehen werden könnten?


es grenzt an ein Wunder, dass diese Pflanzen
mit ihren intensiv nach Kiefernharz...
riechenden Blättern hier aus jeder
noch so kleinen Ritze wachsen.



in solchen Bahnhöfen gibt es wohl die letzten wirklichen Ruderalflächen bei uns



hier zwei adventive Arten, denen es an warmen,
Orten gut gefällt, beide aus Amerika:
Hingestreckte Wolfsmilch (Euphorbia prostrata)
Gefleckte Wolfsmilch (Euphorbia maculata)




hier ein weiterer Vertreter der Bahnhof-Liebhaber:
Klebriges Greiskraut (Senecio viscosus)



auch er liebt trockene, steinige Orte


der Stinkende Pippau (Crepis foetida)
mit seinem Karbolgeruch, hier sogar mal blühend



fast nicht mehr zu erkennen ist dagegen
der Sand-Mohn (Papaver argemone),
da auch er nur am Morgen schön blüht


unscheinbar und vielerorts übersehen ist
dieses Nelkengewächs, welches ich...

hiermit zum ersten Mal sehe:
das Behaarte Bruchkraut (Herniaria hirsuta).



und da ein weiteres "Kronjuwel" der Walliser Bahnhof-Flora:
das Gelbweisse Ruhrkraut (Gnaphalium luteoalbum),
welches ich hiermit zum ersten Mal sehe.
Es wächst ausgerechnet auf den weissen Linien auf dem Perron,
die den minimalen Sicherheitsabstand zu den Geleisen markieren.


den Sicherheitsabstand aber definitiv
überschritten haben diese Exemplare 
sie wachsen ausserhalb des Perrons
und trotzen Hitze und Trockenheit


zum Schluss noch ein Steppenroller neben den Geleisen:
das Kali-Salzkraut (Salsola tragus) ist wohl grad
aus den Steppen Osteuropas zu uns gerollt ;-)